Große Exkursion des 58. Fachhochschullehrgangs in die Medienstadt Leipzig

Der beständigen Pandemiesituation zum Trotz haben es die 58er zusammen mit ihrem Mentor Dr. Robert Meier geschafft, eine Exkursion auf die Beine zu stellen. Das Ziel Leipzig war schnell gefunden, und unter Beachtung der Coronareglements des Landes Hessen, des Freistaates Sachsen sowie der einzelnen Institutionen starteten wir am Morgen des 4. Oktober 2021 in Marburg.

Foto: Auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal

Auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal

Leipzig ist mit ca. 600.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt des Freistaates Sachsen. Sie bildet aufgrund ihrer bewegten Vergangenheit ein Zentrum der Wirtschaft (BMW, Amazon, Siemens), des Handels und Verkehrs (Flughafen Halle-Leipzig, DHL-Umschlag, Leipzig Hauptbahnhof), der Verwaltung (Bundesverwaltungsgericht, Verfassungsgericht des Freistaates Sachsen, Sächsischer Rechnungshof). In Sachen Kultur und Bildung ist Leipzig mit Gewandhaus, Grassimuseum, Oper, Uni, HTWK und Gutenbergschule ein Magnet für ganz Mitteldeutschland.

Weithin bekannt ist Leipzig auch als Ausgangspunkt der friedlichen Revolution von 1989. Bis dahin lenkte die SED mit ihrem sogenannten „Schild und Schwert“, dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), die Geschicke der Stadt. Die Unterlagen der Stasi liegen im heute zum Bundesarchiv gehörenden Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig; sie waren die erste Station der Exkursion. Die eindrucksvolle Führung begann mit Filmmaterial aus den Tagen der Revolution, nahezu auf den Tag genau 22 Jahre vor unserem Besuch. Im Januar 1990 erlangte die Bürgerbewegung Zugang zu den Unterlagen der Stasi, woraus sich 1991 mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) eine ganz besondere Behörde entwickelte. Am 17. Juni 2021 wurde die Angliederung des BStU an das Bundesarchiv vollzogen. Die weltweit einzigartige Überlieferung einer staatlichen Geheimpolizei mit ca. 111.000 lfm schriftlicher Zeugnisse sowie großen Mengen an Bild-, Ton- und Videomaterial lagern aktuell in der Zentrale in Berlin-Mitte sowie in 12 Außenstellen. Struktur, Ablage und Findmittel spiegeln die Arbeitsweise der Stasi – wir konnten die originale Personenkartei sehen, mit der bis heute recherchiert wird. Eine aufwändige Sache, da das Karteiensystem bewusst so angelegt wurde, dass es schwer nachzuvollziehen war und der Fluss von Informationen durch die Abteilungen kontrolliert werden konnte. Dieses System musste von den Mitarbeiter*innen des BStU ohne interne Kenntnisse „entschlüsselt“ und durch eigene Datenbanken erschlossen werden. Die nach heutigen Maßstäben überwiegend verfassungswidrig entstandenen Unterlagen erfordern eine besondere Behandlung vor allem in der Nutzung. Deshalb ist die Arbeitsgrundlage nicht das Bundesarchivgesetz, sondern das 1991 in Kraft getretene Stasi-Unterlagen-Gesetz. Bis heute erstaunt die paranoide Akribie, mit der das Privatleben betreffende Informationen in nur 40 Jahren in Massen angehäuft wurden – bei den 111 km Schriftgut ist nicht mit eingerechnet, was die Stasi selbst vernichtete.

Foto: Der Auftakt: die halbe Gruppe im Saal der BStU Leipzig

Der Auftakt: die halbe Gruppe im Saal des BStU Leipzig

Der 5. Oktober begann im Stadtarchiv Leipzig. Das Stadtarchiv befindet sich seit 2019 im ehemaligen sowjetischen Ausstellungspavillon der alten Leipziger Messe. Archivleiter Dr. Michael Ruprecht führte uns persönlich. Er zeigte alle öffentlichen Räume (Foyer, Gänge, Vortragssäle, Lesesaal) sowie das Magazin und die hauseigene Restaurierungswerkstatt. Ein besonderes Augenmerk galt den Konzepten und Ideen, mit denen das Stadtarchiv nach außen auftritt. So sollen wechselnde Ausstellungen im Foyer die Nutzer und Nutzerinnen zum Eintauchen in die Stadtgeschichte einladen. Besonders wirkte der „Showroom“ des Stadtarchivs, der mit historischem Mobiliar ausgestattet ist und einen Blick ins Magazin erlaubt. Herr Ruprecht ging auf viele verschiedene Bereiche archivischer Herausforderungen ein. So wurde die Problematik eines Umzugs besprochen, die Beratung und Fortbildung der Verwaltung im Bereich Schriftgutverwaltung und E-Government, der Umgang mit Öffentlichkeit und Verwaltung und Aufgaben bei der Umstellung von Erschließungssystemen. Ruprecht empfahl „eine gesunde Portion Pragmatismus“ für die Archivarbeit. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit verfolgt das Stadtarchiv interessante und ungewöhnliche Ideen. Beispielsweise wurde in den Magazinräumen bereits ein Theaterstück aufgeführt. Mit Erfolg: Das habe, so Herr Ruprecht, ganz neue Nutzergruppen in das Archiv geführt.

Foto: Der Auftakt: die halbe Gruppe im Saal der BStU Leipzig

Im Foyer des Stadtarchivs Leipzig. Links Leiter Michael Ruprecht

Die nächste Station war wieder eine Bundesinstitution: die Deutsche Nationalbibliothek. 1912 vom Börsenverein Deutscher Buchhändler als eine der jüngeren Nationalbibliotheken gegründet, liegt sie heute im weltweiten Ranking nach Beständeumfang mit einer Magazinfläche von 50.000 Quadratmetern auf Platz neun. Das Haus vereint die Nationalbibliothek mit der Anne-Frank-Shoah-Bibliothek, dem Deutschen Exilarchiv, dem Deutschen Musikarchiv sowie dem Deutschen Buch- und Schriftenmuseum und deren jeweiligen Sammlungen. In insgesamt acht Lesesälen stehen den Nutzern die Sammlungen der Deutschen Bücherei zur Verfügung. Deren Auftrag ist es, alle deutschsprachige Literatur aus In- und Ausland, Germanica (Literatur, die unabhängig von der Sprache deutsche Themengebiete beinhaltet) sowie musikalische Erzeugnisse deutscher Verlage zu sammeln.

Foto: Eingang zum Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek

Eingang zum Lesesaal der Deutschen Nationalbibliothek

Auch für ein Kulturprogramm war gesorgt. Denkt man an die Geschichte Leipzigs, denkt man an die „Völkerschlacht“ von 1813, die das Ende Napoleons einläutete. Zur Erinnerung errichteten die Leipziger von 1898 bis 1913 das imposante Völkerschlachtdenkmal. Weithin sichtbar erhebt es sich am Beginn der Straße des 18. Oktober. Der Aufstieg über schmale und steile Treppen innerhalb der Mauer des Monuments wurde souverän gemeistert, die Aufgestiegenen mit einem eindrucksvollen Blick über Leipzig und das flache Leipziger Land belohnt.

Foto: Auf dem Völkerschlachtdenkmal

Auf dem Völkerschlachtdenkmal

Der dritte Tag führte in die Stadt Leisnig an der Freiberger Mulde zu einem Betrieb der privaten Wirtschaft. Die DMI GmbH & Co. KG digitalisiert und archiviert in großem Stil Patientenakten von Krankenhäusern. Hervorgegangen aus einem Fotogeschäft, bot die Firma mit Sitz in Münster in Westfalen seit 1966 Archivierung von Krankenakten auf Mikrofilm an. 1994 wurde der Betrieb am Standort Leisnig in den Gebäuden einer alten Tuchfabrik im Tal der Mulde gegründet, in dem heute mehr als 500 Mitarbeiter tätig sind. Wichtigster Service ist die Digitalisierung von Patientenakten: Die Papierakten werden gescannt und an die Kunden ausgeliefert, um in Dokumentenmanagementsystemen zur Anzeige gebracht zu werden. Während des gesamten Prozesses ist sichergestellt, dass Kunden im Bedarfsfall auf einzelne Akten zugreifen können. Mit über 640.000 lfm Akten, mehr als 1.000 Mitarbeitern an drei Hauptstandorten, 60 Servicestellen beim Kunden vor Ort und ca. 1.200 Kunden, darunter etwa 1.000 Krankenhäuser in Deutschland, entwickelte man sich zum größten Sicherheitsarchiv für medizinische Akten Europas. In Leisnig wird im Dreischichtbetrieb digitalisiert: Zwölf Scanner im Haus bewältigen bis zu 10.000 Seiten in der Stunde; in der Praxis ergibt sich eine Scanleistung von täglich 1.5-1.7 Mio Blatt. Die Kunden erhalten Ihre Unterlagen online über eine gesicherte Datenleitung und arbeiten damit vor Ort im Krankenhaus, zur digitalen Langzeitarchivierung hält DMI WORM-Bänder in klimatisierten Datenträgerarchiven redundant vor. Wir waren beeindruckt, wie weit fortgeschritten die Digitalisierung von Archivierungsprozessen hier ist.

Foto: Svenja Tudziers, Matthäus Feigk und Colleen Neuß vor dem Völkerschlachtdenkmal

Svenja Tudziers, Matthäus Feigk und Colleen Neuß vor dem Völkerschlachtdenkmal

Im Anschluss ging es wieder nach Leipzig zur größten Institution, die Leipzigs Archivlandschaft zu bieten hat. Im Sächsischen Staatsarchiv – Abteilung 3, Staatsarchiv Leipzig, hieß uns Leiterin Dr. Thekla Kluttig willkommen und erläuterte ihre Planungen für das Leipziger Haus. Danach stellte uns Katrin Heil, Referentin im Referat 33 (Deutsche Zentralstelle für Genealogie/Sonderbestände) in äußerst lebendiger Weise ihre besonderen Bestände vor, die ein Alleinstellungsmerkmal des Leipziger Staatsarchivs darstellen.

Foto: Im Staatsarchiv Leipzig

Im Staatsarchiv Leipzig

Der Donnerstag stand dann ganz im Zeichen der freien Archive und Gedächtnisinstitutionen.
Den Auftakt machte der Infoladen im über Leipzig hinaus bekannten Conne Island im Stadtteil Connewitz. Infoläden begreifen sich selbst als Teil einer autonomen Organisation und streben eine Vernetzung mit Gruppen aus der eigenen Stadt und darüber hinaus an. Die Infoladenkultur begann in den 80er Jahren in der BRD. Der Infoladen im Conne Island versteht sich vor allem als Bibliothek, doch lagern vor Ort auch unikale Dokumente der autonomen Szene bis zurück in die 90er Jahre. Die Nutzerzahlen sind nicht unbedingt exorbitant, aber im Projekt Conne Island besteht nach Aussage unseres Gastgebers Konsens darüber, dass der Infoladen unbedingt zur Kultur gehört und weitergeführt wird.
Der Weg führte die Gruppe weiter zum Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. im Haus des Buches. Louise Otto-Peters (*26. März 1819 Meißen, †13. März 1895 Leipzig) war eine sozialkritische Schriftstellerin, Demokratin und Mitbegründerin der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung. 1993 gründete Johanna Ludwig in Leipzig den Verein Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. mit dem Ziel, das Leben und Werk von Louise Otto-Peters in der Öffentlichkeit bekanntzumachen und zu würdigen. Alle Veröffentlichungen von ihr und über sie werden gesammelt, erschlossen und Interessierten zugänglich gemacht. Besonders hervorzuheben ist der umfangreiche Bestand der Frauenzeitschrift „Neue Bahnen“ von 1866 bis 1912, der nahezu vollständig vorhanden ist, erschlossen durch ein umfangreiches Personen- und Ortsregister. Der Verein führt Stadtrundgänge zur Frauengeschichte und zu Stätten der Erinnerung an die Namensgeberin und an ihre Mitstreiterinnen durch, ist Mitglied im Landesfrauenrat Sachsen e.V. und im Dachverband der deutschsprachigen Frauen- und Lesbenarchive. Die Vorsitzende Constanze Mudra zeichnete ein lebendiges Bild von den Aktivitäten und auch den Nöten ihres Vereins.

Foto: Die Exkursionsteilnehmer des 58. FHL-Kurses vor dem Stadtarchiv Leipzig

Die Exkursionsteilnehmer des 58. FHL-Kurses vor dem Stadtarchiv Leipzig

Begonnen hatten die Tage in Leipzig mit den staatlichen Repressionen des DDR-Regimes im Stasi-Archiv, abgeschlossen wurden sie mit den Zeugnissen des Widerstands gegen diese. Das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. empfing uns im Haus der Demokratie. Bildungsreferentin Juliane Thieme und Archivarin Diana Stiehl hatten ein abwechslungsreiches Programm vorbereitet. Das Archiv sammelt Selbstzeugnisse der Opposition der DDR im Bezirk Leipzig, der Bestand stellt also die Gegenüberlieferung zum BStU dar. Der Verein wurde 1991 von Aktivisten kirchlicher und oppositioneller Gruppen zunächst in einer Privatwohnung gegründet. Der Auftrag lautete damals wie heute, Selbstzeugnisse der DDR-Opposition, der Bürgerbewegung und der in den Jahren 1989/90 entstandenen Initiativen und Parteien zu sammeln, zu sichern, zu erschließen und sie dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der erste Bestand stammte von der Markuskirche in Leipzig und umfasst die Gemeindebibliothek, in der seit 1988 als „Umweltbibliothek“ Veröffentlichungen alternativer Akteure zusammengetragen wurden. Sogenannte Samisdatschriften (samisdat: russisch = Selbstverlag, im Ostblock Bezeichnung für nicht systemkonforme Literatur) sind heute eine Besonderheit der Bestände. Die Bestände erstrecken sich über 250 lfm Archivgut, Zeitungen und Zeitschriften, Zeitungsausschnitte, Video- und Tonkassetten, 2.700 Bücher und Schriften von Aufarbeitungsinitiativen sowie eine Fotosammlung mit über 15.000 Bildern von ca. 30 Fotografen. Die Vereinsarbeit u. a. mit Programmen für Schüler*innen, Ausstellungen und Publikationen wird finanziell gefördert durch die Stadt Leipzig, die Stiftung Sächsische Gedenkstätten zu Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und durch projektbezogene Mittelgeber.

Foto: Im Völkerschlachtdenkmal. Foto Ulrich Stevens

Im Völkerschlachtdenkmal. Foto Ulrich Stevens

Letzter Programmpunkt der Exkursion war der Besuch des Unternehmensarchivs der Schott AG in Jena. Ursprünglich gegründet, um für die optischen Geräte der benachbarten Carl-Zeiss-Werke Spezialglas herzustellen, wurde die Produktpalette bald um Laborausrüstung und Lampenglas erweitert. In den 1920er Jahren produzierte Schott Haushaltsartikel für das Bauhaus. Durch die deutsche Teilung wurden das Unternehmen und die als Gesellschafterin fungierende Stiftung geteilt. Auch nach der Wiedervereinigung blieben die Standorte in Ost- und Westdeutschland erhalten. Die Leiterin des Unternehmensarchivs, Judith Hanft, beschrieb die verschiedenen Standorte als Herausforderung für die Bestandsbildung. Ihr lebhafter Vortrag zu den vielfältigen Aufgaben der „Historischen Kommunikation“, die bei Schott dem Marketing zugeordnet ist, machte Überschneidungen und Unterschiede im Vergleich mit öffentlichen Archiven deutlich.

Foto: Der ganze Kurs im Archiv der Schott AG, Jena. Vorne: Jannik Staudenmaier, Raphael Schmitz, Ulrich Stevens; Mitte: Annika Stehle, Christian Möller, Patricia Scheuch, Svenja Tudziers, Lisa Jahn, Judith Hanft (Schott AG), Janina Pinger; hinten: Benedikt Fiedler, Colleen Neuß, Lena Kirchner (verdeckt), Matthäus Feigk, Martin Schulz, René Gilbert, Robert Meier

Der ganze Kurs im Archiv der Schott AG, Jena. Vorne: Jannik Staudenmaier, Raphael Schmitz, Ulrich Stevens; Mitte: Annika Stehle, Christian Möller, Patricia Scheuch, Svenja Tudziers, Lisa Jahn, Judith Hanft (Schott AG), Janina Pinger; hinten: Benedikt Fiedler, Colleen Neuß, Lena Kirchner (verdeckt), Matthäus Feigk, Martin Schulz, René Gilbert, Robert Meier

Diese spannenden Eindrücke und Einblicke in die Geschicke eines Unternehmensarchivs bildeten den Abschluss einer bewegten, lehrreichen und erinnerungswürdigen Exkursion. Nachdem die pandemiebedingten Einschränkungen den 58. Fachhochschullehrgang an der Archivschule, der seit Oktober 2020 in Marburg ist, besonders hart getroffen haben, war diese Reise eine wunderbare Gelegenheit, sich nach einem Jahr endlich richtig kennen zu lernen.

Martin Schulz, Benedikt Fiedler, Lisa Jahn, Lena Kirchner, Christian Möller, Colleen Neuss, Janina Pinger, Raphael Schmitz, Ulrich Stevens, Jannick Staudenmaier, Svenja Tudziers, Robert Meier

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