Studienfahrt des 55. Wissenschaftlichen Lehrgangs nach München

Es war eine Premiere. Die Studienfahrt des 55. Wissenschaftlichen Lehrgangs führte nicht in das Ausland, sondern im Oktober 2021 in die Münchner Archivlandschaft. Es gab viel zu entdecken und zu vergleichen.

Seit vielen Jahren reisen die Referendar*innen der Wissenschaftlichen Lehrgänge in das Ausland, um dort vergleichend Archive zu erkunden. Nachdem beim vorherigen Kurs die Studienfahrt coronabedingt hatte ausfallen müssen, fiel in diesem Jahr die Entscheidung, erstmals eine Auswahl von Archiven in München zu erkunden – und natürlich auch die dortige Archivschule einzubeziehen. Vorab ein Dank an alle Mitarbeiter*innen der von uns besuchten Institutionen, dass sie diese Studienreise trotz der fortdauernden Coronapandemie möglich gemacht haben.

Die zentrale Fragestellung war, wie die Archive aus sehr unterschiedlichen Archivsparten und mit sehr unterschiedlicher finanzieller Ausstattung ihre archivischen Fachaufgaben bewältigen. Die Breite des Antwortspektrums beeindruckte und zeigte einmal mehr, wie unterschiedlich der Beruf von Archivar*innen in der Praxis ausgestaltet sein kann.

Gebäude der UniCredit Bank AG„Es geht in Richtung History Marketing“ – mit diesen Worten wurde die Leitlinie im Historischen Archiv der UniCredit Bank AG auf den Punkt gebracht. Die Leiterin, Diplom-Historikerin Elke Pfnür, bildet nun selbst für Wirtschaftsarchive aus und betonte, dass in ihrem Archiv „andere Skills“ als in einem öffentlichen Archiv nötig seien. Fast alle Nutzungen erfolgen durch Mitarbeiter*innen der Bank selbst, so dass der Service auf deren Bedürfnisse zugeschnitten ist: Es geht um Präsentation und Marketing. Schon Vortrag von Elke Pfnür, Historisches Archiv der UniCredit Bank AGdeshalb befinden sich im Magazin der Bank, untergebracht im Keller eines imposanten Gebäudes, auch viele dreidimensionale Gegenstände. Seit 2008 ist die Einrichtung ein national wertvolles Archiv nach dem Kulturgutschutzgesetz. Die wenigen externen Nutzer*innen („wir sind kein Kundenarchiv“) erhalten Zugang nicht nach den Archivgesetzen, sondern aufgrund einer Richtlinie, die vor etlichen Jahren in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Polley, dem früheren Dozenten für Archivrecht an der Archivschule, entwickelt wurde. So sehr der schon im Gebäude ausgedrückte Reichtum der Bank einen schönen Rundblick über München ermöglicht, so liegt dennoch die personelle Ausstattung des „Historischen Archivs“ im unteren einstelligen Bereich. In Erinnerung bleibt auch die Sauerstoffreduzierungsanlage, die als aktives Brandvermeidungssystem im Magazin des Archivs einen Sauerstoffgehalt wie in 4.000 Meter Höhe herbeiführt, so dass spezielle Vorgaben für den Aufenthalt im Magazin nötig sind.

Das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, die zweite Station der Studienfahrt, ist wesentlich anders aufgestellt: Es sammelt und erschließt vorrangig Material, um die Forschungsarbeit des Instituts zu unterstützen. Der Leiter, Dr. Klaus A. Lankheit und seine Stellvertreterin, Dr. Esther-Julia Howell, eine Absolventin eines früheren Wissenschaftlichen Lehrgangs an der Archivschule, präsentierten uns einen Überblick zur Überlieferungsbildung seit den 1950er Jahren – „Zeugenschrifttum“ wird genauso gesammelt wie Kopien von Gerichtsunterlagen.
Vor dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte
Beeindruckend war die traditionell sehr tiefe Erschließung, teilweise bis auf die Einzelblattebene, durch die große Anzahl an Mitarbeiter*innen. Die Nutzung erfolgt in Anlehnung an die Archivgesetze. Rund 10 % des erschlossenen Archivguts sind bereits digitalisiert, und am Forschungsdatenmanagement ist das Archiv – wie übrigens auch die Archivschule Marburg – über das Netzwerk NFDI4Memory beteiligt. Auffällig ist aber, dass es aktuell keine nationale Strategie zur Überlieferungsbildung zum Nationalsozialismus gibt und daher z. B. bei den Unterlagen zu den Nürnberger Prozessen Doppelüberlieferungen entstanden sind.

Ein nochmals wesentlich anders aufgestelltes Archiv zeigte sich in der dritten Station: Im Archiv des Erzbistums München und Freising erwartete uns eine umfangreiche und aufschlussreiche Präsentation, Vor dem Archiv des Erzbistums München und Freisingerläutert von Prof. Dr. Johannes Merz (Leiter von Archiv und Bibliothek) und dem in Potsdam ausgebildeten Michael Volpert M.A. M.A.  (Abteilungsleiter Archiv). Das Archiv, zugleich Behördenarchiv für das Erzbischöfliche Ordinariat München und Sprengelarchiv für die Erzdiözese, verfügt über verschiedene Standorte mit mehreren zehntausend Regalmetern und präsentierte sich als modernes Managementarchiv, das viele Aufgaben an externe Dienstleister vergibt: „Bei uns sind alle Mitarbeiter mit Qualitätsmanagement beschäftigt“. Dazu gehört auch die Entwicklung eines Informations- und Datenmanagements im Erzbischöflichen Ordinariat: Die Archivierung ist perspektivisch in ein Lebenszyklusmodell eingebettet. Für die 1,6 Millionen Katholik*innen im Erzbistum ist auch aus archivischer Sicht umfassend gesorgt.

Es folgte ein Blick auf die staatliche Archivlandschaft. Die Generaldirektorin der Staatlichen Archive Bayerns, Dr. Margit Ksoll-Marcon, begrüßte uns als Leiterin „der zweitgrößten und zugleich einzigen zweistufigen Archivverwaltung Deutschlands“. Wie diese Aufsichts- und Leitungsfunktionen von ihrer Behörde ausgefüllt werden, erfuhren wir an vielen Beispielen (z. B.: „Ich bin ein ganz starker Fan von Bewertungskatalogen“).

Gerne hätten wir natürlich die Gelegenheit zum Austausch mit Studierenden der Bayerischen Archivschule genutzt, doch die nächsten Kurse begannen erst einen Monat nach unserem Besuch. Frau Dr. Ksoll-Marcon (r.) und Frau Frauenreuther (l.)Stattdessen präsentierte Dr. Julian Holzapfl als Dozent der Archivschule ein Konzept für einen zeitgemäßen archivischen Unterricht in Schriften- und Quellenkunde. Sein engagiertes und philosophisch fundiertes Plädoyer für „Kontextwissen“ als zentrales Ziel der Ausbildung bei gleichzeitiger Ablehnung von „Kaderschmieden“ führte zu angeregten Diskussionen. Archivrätin Sabine Frauenreuther konnte anschließend weitere Fragen zur Bayerischen Archivschule beantworten und die rechtlichen Grundlagen erläutern.

Die verwickelte Institutionengeschichte des Bayerischen Hauptstaatsarchivs ist gegenwärtig Thema einer kleinen Ausstellung, für uns fachkundig erläutert von der Kuratorin Dr. Elisabeth Weinberger als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit. Nachfragen gab es auch zu den Abteilungen des Hauptstaatsarchivs, dessen Geheimes Hausarchiv nur mit Zustimmung des Oberhaupts des Hauses Wittelsbach benutzt werden darf. Anders als beim Haus Hohenzollern, bei dem die Konflikte vielfältig vor Gericht und zeitgleich zur Studienfahrt sogar auf dem Historikertag diskutiert wurden, gibt es aber bei den Wittelsbacher Beständen „nur wenig Konflikte in der Nutzung“. Die letzte Station unseres Besuchs in dem beeindruckenden Gebäude, das einige Teilnehmer*innen der Studienfahrt schon zuvor aus der Nutzerperspektive wahrgenommen hatten, war eine Zimelienschau, die uns bis zu Karl dem Großen und der Ersterwähnung von München führte.

Die letzten zwei Stationen der Studienfahrt boten dann wiederum zwei sehr unterschiedliche Ausgestaltungen archivarischer Professionalität: Im Archiv des Deutschen Museums begrüßte uns mit Archivleiter Dr. Mathias Röschner Vor dem Archiv des Deutschen Museumsnochmals ein Absolvent eines früheren Wissenschaftlichen Lehrgangs der Archivschule Marburg. Ähnlich wie das bereits erwähnte Archiv des Instituts für Zeitgeschichte versteht sich auch dieses Archiv als „sammelndes Archiv“, hier zur Geschichte der Naturwissenschaft und Technik. Als Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft erfolgt dabei ein „Sammeln im Verbund“, wobei sich eine vertiefte Erschließung anschließt. Auch hier durfte ein abschließender Blick in besonders herausragende Bestände nicht fehlen: Quellen zur Entstehung von Geräuschen in Hitchcock-Filmen bis hin zu der Nobelpreis-Medaille des Physikers Philipp Lenard.

Das Bayerische Wirtschaftsarchiv führte uns dann erstmals in einen Münchner Außenbezirk. Dieses Archiv, 1994 als Gemeinschaftseinrichtung aller bayerischen Industrie- und Handelskammern gegründet, gehört zur Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern und kümmert sich vor allem um Unterlagen aus den Bereichen Industrie, Handel und Dienstleistungen, soweit die Firmen nicht selbst Archive betreiben – „wir verstehen uns als Serviceeinrichtung“, denn es gibt keine Anbietungspflicht privater Einrichtungen. Die Archivleiterin Dr. Eva Moser, ihr Stellvertreter Dr. Richard Winkler und der Wiss. Mitarbeiter Dr. Harald Müller zeigten das große Engagement der drei Historiker*innen, mit dem sie ihr Archiv betreiben („was zu uns kommt, beruht zu 85 % auf Eigeninitiative“). Digitale Übernahmen sind hingegen noch nicht möglich.
Vor dem Bayerischen Wirtschaftsarchiv

Mit dieser siebten Station war unsere Reise durch die Münchner Archivlandschaft abgeschlossen, klimafreundlich per Zug, mit dem öffentlichen Nahverkehr und per pedes durchgeführt. Was bleibt? Unter anderem der Einblick in die so unterschiedlichen Ausgestaltungen von professioneller Arbeit im Archiv – auch weil die Professionalisierung der Mitarbeiter*innen der besuchten Archive so unterschiedlich erfolgt ist (wie erwähnt, trafen wir auch mehrere Absolvent*innen der Marburger Archivschule in Bayern an). Beeindruckend war auch die gute Vernetzung der Münchner Archive, öffentlich dokumentiert durch ihren Gemeinschaftsblog.

Beendet sei dieser Bericht mit einem nochmaligen Dank an die Mitarbeiter*innen der besuchten Archive, die den Besuch unserer Gruppe trotz Corona möglich machen konnten; immerhin drei Archive mussten im Vorfeld wegen hausinterner Corona-Regeln absagen. Und natürlich gilt: Wenn die nächsten Kurse der Bayerischen Archivschule eine Studienfahrt in die hessische Archivlandschaft machen sollten, sind sie herzlich nach Marburg eingeladen!

Thomas Henne

Die Organisation und Durchführung der Studienfahrt erfolgte mit Unterstützung der Exkursionskommission des 55. Wissenschaftlichen Lehrgangs: Stefan Holz, Magdalena Rais und Dr. Sabine Schneider.

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